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Es geht ums Ganze

Karl Geiger erklärt, warum es beim Skispringen um so viel mehr geht, als nur ums Fliegen.

Wenn sich das Jahr dem Ende neigt, erhebt sich die Welt der Skispringer zu ihrem alljährlichen Highlight: der legendären Vierschanzentournee. Mit von der Partie ist natürlich auch Karl Geiger, 5x Weltmeister, 3x Medaillengewinner bei Olympischen Spielen – und seit Jahren eine der prägenden Figuren der Skisprungszene.

Turbulenzen zum Saisonstart

Die ersten Springen der Saison verliefen für Karl einigermaßen turbulent: Beim Weltcup-Auftakt im polnischen Wisla verpasste er noch das Finale. In Ruka (Finnland) ging‘s auf Rang sechs, in Titisee-Neustadt flog er als Dritter sogar bis aufs Podest. Beim ersten Springen in Engelberg landete er abgeschlagen auf dem 22. Platz, um dann beim zweiten Springen zwei starke Sprünge auszupacken, die ihn – trotz Punktabzug wegen eines Sturzes – auf den 10. Platz brachten.

»Als Skispringer muss man sich immer wieder neu erfinden.«

Karl, wo stehst du?

„Schwer zu sagen! Der Weltcup-Auftakt in Wisla lief gar nicht nach Plan, in Titisee konnte ich abrufen, was derzeit möglich ist. Mein Niveau ist nicht stabil, ich habe Defizite, an denen zu arbeiten ist.“

Warum ist es auch als „alter Hase“ mit 29 Jahren so schwer, auf den Punkt am Start zu sein?

„So einfach ist das leider nicht. Beim Skispringen geht es um eine Vielzahl an Details. Und die verändern sich Jahr für Jahr. Vielleicht ist die Sprungkraft eine andere, vielleicht hat sich die Beweglichkeit verändert und es wirken andere Kräfte. Die Idee eines guten Sprungs aus dem Vorjahr muss nicht mehr unbedingt funktionieren. Als Skispringer muss man sich immer wieder neu erfinden.“

Auf welche Details musst du achten?

„Es geht um kleine Unterschiede, die große Auswirkungen haben. Skispringen ist eine Techniksportart, bei der du in Sekundenbruchteilen reagieren muss. Der Bewegungsablauf muss extrem sauber und präzise sein. Und ein Fehler in der Anfahrtshocke zieht sich durch den ganzen Versuch, in den Absprung und in den Flug. Dann sind auf einmal zehn Meter weg … und man fragt sich, was geschehen ist.“

"It's about small differences that may have a big impact. Ski jumping is a technical sport where you have to react in split seconds. The motion sequence has to be extremely clean and precise. And a mistake in the approach carries through the entire attempt, into the jump and into the flight. Then all of a sudden ten meters are gone ... and you wonder what happened."

Mit Anlauf zum Erfolg

Um zu verstehen, wie kompliziert Skispringen wirklich ist, dient die Hocke im Anlauf als gutes Beispiel. Es ist nämlich nicht so, dass die Athleten vom Balken aufstehen und dann mal eben den Berg runter fahren. Schon hier, in der Hocke, kommt es auf feinste Details an, um am Schanzentisch in eine optimale Flugphase starten zu können.

»Dann wirst du mutig. Vielleicht zu mutig.«

Auf was gilt es bei der Anfahrtshocke zu achten?
„Wichtige Faktoren sind, wie man die Winkel von Knie und Hüfte stellt, wie tief man den Körper bringt und wie sich der Schwerpunkt verhält. Jede Schanze hat im Anlauf ihren eigenen Radius, ihre eigene Kompression. Man muss die Balance des Körpers an jede Schanze anpassen, den Schwung aus dem Radius optimal aufnehmen, damit du in der perfekten Hocke am Schanzentisch ankommst, um dort mit maximaler Dynamik abspringen zu können.“

Und wenn’s nicht passt?
„Kann es sein, dass man es erst einmal gar nicht merkt. Vielleicht fühlt sich die Anfahrtshocke richtig an, man sitzt aber minimal zu weit hinten und verpasst deshalb den idealen Absprung. Von der perfekten Hocke bis zur falschen Balance sind es nur Nuancen.“

Und dabei geht’s um Zentimeter?
„Absolut. Man kann es gut am Absprung veranschaulichen. Ist man zu spät dran, versucht man früher abzuspringen und justiert nach. War es anfangs ein Meter zu spät, sind es beim nächsten Sprung nur noch 90 Zentimeter, dann 80, 70, 60 … bis man den Absprung optimal trifft. Dann wirst du mutig. Vielleicht zu mutig. Plötzlich ist man zu früh dran, und schon funktioniert der Sprung nicht mehr.“

Analysieren. Und visualisieren.

Es geht um Technik. Und es geht viel ums Gefühl. Wenn das nicht passt, kommt man nicht so richtig ins Fliegen. Und stattdessen schnell ins Grübeln. Vor allem dann, wenn’s bei den anderen gerade bestens läuft. Nun gilt es, gemeinsam mit Trainern, Teamkameraden und Betreuern die eigenen Sprünge zu analysieren und die richtigen Schlüsse daraus ziehen.

»Wenn du das spürst … dann bist du bereit zu fliegen.«

Wie frustrierend ist es, nur hinterherzuspringen?

„Das macht nicht unbedingt Spaß, aber es ist Teil des Sports. Man muss sich auf den Weg begeben und daran arbeiten. Das ist manchmal bitter. Aber es kann auch schnell wieder weit nach vorne gehen, wenn die richtigen Entscheidungen ineinandergreifen.“

An wie viele Einzelheiten musst du vor einem Sprung denken?

„Kommt ganz darauf an. Wenn’s läuft, achte ich vielleicht nur explizit auf zwei spezielle Dinge. Es können aber auch mal sieben oder acht Punkte sein, die ich ganz gezielt ansteuern möchte. Und umso intensiver visualisiere ich dann auch meinen Sprung, wenn ich oben an der Schanze stehe. Es gibt Tage, an denen reicht zweimal. An anderen gehe ich die Abläufe zehn bis 15-mal im Kopf durch, ehe ich das Gefühl habe, bereit zu sein.“

Was ist am Ende das Erfolgsrezept?

„Für mich ist wichtig, dass ich eine klare Idee von meinem Sprung habe und davon überzeugt bin, dass es funktioniert. Beim Skispringen geht’s ums Ganze. Ein guter Sprung ist ein ganzheitliches Bild, alle Bausteine werden in einem Gefühl miteinander verknüpft. Wenn du das spürst, dann bist du bereit deinen Sprung freizugeben … und weit zu fliegen.“

Eine Tournee. Vier Chancen.

Kommen wir also zur Vierschanzentournee, die man auch „Vier-Chancen-Tournee“ nennen könnte, weil die vier Schanzen so unterschiedlich sind und deshalb immer wieder neue Möglichkeiten bieten, weit zu springen. Wir haben Karl Geiger darum gebeten, die vier berühmten Sprunganlagen in Deutschland und Österreich für uns zu charakterisieren:

Oberstdorf

„Auffallend unauffällig! Kein besonderer Radius, keine besondere Flugkurve, nichts wirklich Markantes. Eine Schanze, die für mich keinen entscheidenden Knackpunkt hat. Das macht es schön harmonisch. Aber gleichzeitig schwer, weil irgendwie alles zusammenpassen muss.“

Garmisch-Partenkirchen

„Durchaus markant! Diese Schanze hat eine relativ straffe Radiuskompression mit einem kleinen Schlag. Hier ist die Challenge, dass man den Übergang perfekt erwischt und den Schwung aus dem Radius extrem gut in den Flug transportiert.“

Innsbruck

„Der Gradmesser schlechthin! Auf einem Hügel in der Brennerschneise, sehr anfällig für Wind und Wetter und dadurch gerne mal unberechenbar. Hinzu kommt ein Knick im Radius mit einer ziemlichen Kompression. Um beim Absprung weit genug vorne zu sein, brauchst du eine offensive Anfahrtshocke. Ist die allerdings zu offensiv, kann dich die Kompression zu weit nach hinten drücken.“

Bischofshofen

„Der flachste Anlauf der Welt! Lange Anfahrt, nicht schnell, keine große Radiuskompression. Die ersten Versuche ist man beim Absprung gerne mal zu früh dran, weil man denkt, dass es doch endlich losgehen muss. Man zögert den Absprung hinaus, und plötzlich ist man doch zu spät. Trifft man allerdings den Absprung perfekt, kann es sehr weit gehen, es ist eine schöne Seglerschanze.“

Die Zukunft vor Augen

Am 29. Dezember 2020 hat Karl Geiger bei der 69. Vierschanzentournee das Auftaktspringen auf seiner Heimschanze in Oberstdorf gewonnen. Vielleicht klappt es ja auch in diesem Jahr mit einem Sprung aufs Podest – oder sogar bis ganz nach vorne?

Wichtig sei ihm vor allem, sich bei aller sportlichen Ambition auch menschlich weiterzuentwickeln. Karl sagt, er wolle niemals stehenbleiben. Sondern die Dinge hinterfragen und sich immer wieder verändern. Herausforderungen annehmen. Und versuchen, aus allem zu lernen. „Das allerdings“, so sagt er, „natürlich am liebsten beim Gewinnen …“

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